Alkohol – (k)ein Problem? Die Sichtweisen variieren

 

„Und wo ist das Problem?“ fragt der Nationale Aktionstag Alkoholprobleme in diesem Jahr. Am 10. Mai 2012 berichten Fachleute über ihre Erfahrungen und zeigen auf, welche Unterstützungsangebote bestehen. Gleichzeitig regt der Aktionstag dazu an, Fragen rund um den eigenen Alkoholkonsum zu stellen.

„Ich überschreite Grenzen, statt sie einzuhalten“

Menschen nehmen Alkoholprobleme unterschiedlich wahr. Der Aktionstag schafft Raum für individuelle Sichtweisen: Tim (Name geändert) lebt intensiv. Mit Leidenschaft verfolgt er seine Interessen. Früher spielte er Handball auf höchstem Niveau, bis ihn eine Verletzung zum Rücktritt zwang. Das Training abends hinterliess eine Lücke, die er nach und nach mit Alkoholtrinken füllte. Kein Problem – das war lange seine Haltung. Der Alkohol begleitete ihn täglich, er half ihm, abzuschalten, sich zu beruhigen. Tim trank stets allein, im Verborgenen. Er ist selbständig erwerbend, doch ab Mitte Nachmittag war damals an Arbeit nicht mehr zu denken. Er zog sich zurück, schlief. Irgendwann realisierte er seinen Leistungseinbruch. Er war überall nur halb bei der Sache, ruhelos. Inzwischen hat der 57-Jährige viel über seinen Konsum nachgedacht und Schritte unternommen, diesen in den Griff zu kriegen. Die Tagebuchnotizen von früher erschrecken ihn. Das Mass zu finden, bleibt für ihn immer noch schwer. Heute helfen ihm eine Selbsthilfegruppe sowie ein Medikament, vom Alkohol zu lassen.

„Für mich ist Alkohol ein Genuss“

… sagt Anita (Namen geändert), 25, kaufmännische Angestellte. „Die Jugendlichen trinken zu viel“, meint Barbara, 24, Übersetzerin. „Es gibt ein Problem mit Alkohol“, räumt Charlotte, 17, Schülerin, ein. Das Problem gelte aber nicht für alle. „Alkohol ist zu billig“, urteilt, August, 49, Verkäufer. „Wenn Alkohol konsumiert wird, um Probleme zu unterdrücken, sehe ich Schwierigkeiten“, denkt Debora, 27, Industrielackiererin. „Problematisch wird es, wenn der Alkoholkonsum zu einer Gewohnheit wird“, erwidert Eveline, 22, Studentin. „Ich finde es tragisch, wenn Menschen ihre Grenzen nicht kennen“, ergänzt Franziska, 19, Studentin.

„Die meisten Jugendlichen haben keine Probleme mit Alkohol“

…betont Anna Mele, zuständig für die offene Jugendarbeit in einem Bieler Quartier. Sie stellt fest, dass 15- oder 16-Jährige phasenweise Alkohol ausprobieren, Grenzen erkunden. Für viele gehört dies zu den Erfahrungen im Jugendalter. Eine Minderheit der Jugendlichen trinkt problematisch, wobei oft gleichzeitig andere Schwierigkeiten in Schule, Ausbildung oder Beziehungen bestehen. Im Jugendtreff darf kein Alkohol getrunken werden. Regelverstösse greift Anna Mele mit den Jugendlichen auf.

Das richtige Mass

„Wer täglich zu viel trinkt, wiederholt bei einzelnen Gelegenheiten über die Stränge schlägt oder dann trinkt, wenn ein klarer Kopf nötig wäre, erhöht sein Unfall-, Krankheits- oder Suchtrisiko“, erklärt Silvia Steiner, Präventionsfachfrau von Sucht Schweiz. Die Grenze zwischen einem risikoarmen und problematischen Konsum ist nicht bei allen Menschen gleich. Als Anhaltspunkt gilt: Risikoarm zu trinken heisst für gesunde erwachsene Männer, pro Tag nicht mehr als zwei Gläser zu sich zu nehmen, Frauen sollten höchstens ein Glas trinken.

Veränderung ist möglich

Alkoholprobleme betreffen uns alle, direkt oder indirekt. Schätzungen zufolge trinken über eine Million Personen in der Schweiz risikoreich, 250‘000 sind alkoholabhängig. Rund eine Million Menschen kennen jemanden im Umfeld, der alkoholabhängig ist und Zehn¬tausende von Kindern wachsen mit einem alkoholkranken Elternteil auf. Die Entstehung von gut 60 Krankheiten wird mit Alkohol in Verbindung gebracht. 
Wer seinen Alkoholkonsum nicht mehr im Griff hat, sollte nicht zögern, professionelle Unterstützung zu beanspruchen. Veränderung ist möglich: Alkoholberatungsstellen bieten Betroffenen und deren Angehörigen anonyme und meist kostenlose Unterstützung an. Haus¬ärztinnen und Hausärzte agieren oft als erste Ansprechpartner. Selbst¬hilfe¬gruppen ermöglichen den Austausch in fast jeder Region.

Nationaler Aktionstag Alkoholprobleme

Der Nationale Aktionstag Alkoholprobleme vom 10. Mai 2012 sensibilisiert die Bevölkerung für die besonderen Belastungen, mit denen Menschen mit Alkoholproblemen und deren Angehörige leben. Der Aktionstag spricht Schwierigkeiten an, die in unserer Gesellschaft ungern thematisiert werden. Die öffentliche Debatte am Aktionstag soll das Schweigen brechen, damit Betroffene den Mut finden, Unterstützungsangebote zu nutzen. Institutionen, die in Prävention, Beratung und Therapie von Alkoholproblemen tätig sind, stellen am Nationalen Aktionstag ihre Dienstleistungen vor. 
Der Aktionstag, der in diesem Jahr den Titel „Und wo ist das Problem?“ trägt, wird gemeinsam organisiert vom Fachverband Sucht, von GREA (Groupement romand d’études des addictions), INGRADO (servizi per le dipendenze), dem Blauen Kreuz, den Anonymen Alkoholikern (AA), der Schweizerischen Gesellschaft für Suchtmedizin (SSAM) und Sucht Schweiz. Der Aktionstag wird durch das Nationale Programm Alkohol finanziell unterstützt. Er findet nun alle zwei Jahre abwechselnd mit der Dialogwoche Alkohol des Bundesamtes für Gesundheit im Mai statt.